Mittwoch, 6. April 2016

Durch Einfalt zur Vielfalt

I.
In längst vergangenen Gymnasialzeiten gehörte Johann Joachim Winckelmanns Diktum  "edle Einfalt,  stille Größe" zum Standardrepertoire des Philologen und/oder Deutschlehrers zur Abfertigung von Schüleraufsätzen, die sich anstelle der geforderten, ins Dialektische zielenden "Erörterung" mit einer simplen These und entsprechend schlichten, wiederholsamen Argumenten begnügten. Ein derart  ungnädiger Pauker hätte auch auf die Winckelmanns Inspiration beflügelnde - von übler Schlangenvielfalt umzüngelte - Figur des Laokoon verweisen können, dessen Warnungen vor dem Troja bereichernden Danaergeschenk von der rachsüchtigen Athene abgewürgt wurden. Er hätte auch sagen können, dass eine schrille These nicht dadurch besser wird, wenn sie mit dem Holzhammer vorgetragen wird.

II.
Derlei aus dem  deutsch-abendländischen Bildungsfundus geschöpfte Erinnerungen drängten sich am 1. April (!) bei der Lektüre der FAZ-Rubrik "Fremde Federn"  (S.8) auf. Ich gestehe eine politische Bildungslücke:  Der Name des Autors Michael Roth ("Der Autor ist Mitglied der SPD und Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt") war mir bis dato nicht bekannt. In besagter Rubrik unternimmt Herr Roth (oder dessen mit Pressekram beauftragter Referent) die Erörterung der Fragestellung "Multikulti oder Wahnwitz der Gleichförmigkeit"?  In der Frage liegt bereits die demokratische Antwort: Wer am Segen der Vielfalt zweifelt, gehört zu den Kindern des Wahnwitzes. Im Aufsatz von Herrn Roth findet sich indes - aus karrierebedingter geistiger Vorsicht? - keinerlei kritischer Verweis auf seine Kabinettschefin Angela Merkel, die vor ein paar Jahren noch deklarierte: "Multikulti ist gescheitert."

Der Aufsatz über den "Wahnwitz der Gleichförmigkeit" beginnt mit düsterem Lamento: "Europa droht sich zu verlieren, wenn es nicht mehr weiß, was es im Kern ausmacht." Gewiß doch, den Kern einer europäischen Gesellschaft bilden die Werte, die Europa zusammenhalten. [Rote Randbemerkung des Korrektors: "Welche ´Werte´ gelten im Lande des EU-Aspiranten Albanien, welche im kleinalbanischen Protektorat Kosovo, welche im Euro- und Flüchtlingskrisenland Griechenland? Welche Werte hat Poroschenko in Panama angelegt? Gelten die alten neuen Werte in der Ukraine auch nach dem derzeit (Mittwoch, 06.04.2016) noch ungewissen Ausgang der Volksabstimmung in den Niederlanden über das EU-Assoziierungsabkommen mit Kiew?].

Weiter im Text: Die Werte sind laut Roth in den EU-Verträgen eindeutig fixiert: "Toleranz, Pluralismus und Nichtdiskriminierung". Ja, wenn´s so in den Verträgen steht, ist Zweifel an den Werten unzulässig. Der wertebewußte Autor hätte sein Argument jedoch korrekt differenzieren sollen: Keine Toleranz für die Intoleranten! Das gilt für alle, die unter Verdacht fallen, d.h. die renitenten Osteuropäer und insbesondere für Viktor Orbán, der soeben von Altkanzler Helmut Kohl, Europäer von Jugend auf und Protagonist der in Maastricht begründeten EU, eingeladen wurde. Frage: Um sich etwa von Kohl über die neuen EU-Werte belehren zu lassen?

Der Autor affirmiert seine These: "Die EU ist nun einmal (sic!) mehr als nur die Summe von 28 Mitgliedstaaten. Sie ist ein Wert an sich, sie bindet Länder und deren Völker." [Rote Randbemerkungen: "Reine Behauptung! Weiß Verf. nicht, dass ´Völker´ ein blumiger Begriff  ist?"] Immerhin, der Schlenker wird vom Verf. sogleich korrigiert: "Gesellschaften, die sich auf einem homogenen Verständnis gründen, sind dagegen nur vorgestrig, sie widersprechen auch dem Geist der Verträge." [Rote Ringellinie (Stil!), Randbemerkung: "Unfundierte Affirmation!"]

Der Verf. fährt mit einem Definitionsversuch fort: "Vielleicht haben wir [?1? Wer ist "wir"?]  nicht deutlich genug klargemacht, dass es (sc. bei "Multikulti") eben nicht um Beliebigkeit, sondern um wertegebundene Verlässlichkeit geht. Multikulturalität, - ethnizität und -religiösität [gilt nicht für Salafisten, wohl aber für die entsprechenden Spenden der wertegebundenen Saudis, der Korrektor] brauchen einen  gemeinsamen Wertekanon." [Wh!])  Doch diese Werte fallen nicht einfach so vom Himmel, sie müssen vermittelt und erlernt werden - in Kindergärten und Schulen, in Jugendgruppen und Sportvereinen." [Randnotiz: "Wie wäre es mit der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht als Schule der postnationalen Multikulti-Nation?"] 

Mit Merkels Rede von gestern/vorgestern (s.o.) will sich Verf. gar nicht erst auseinandersetzen, denn "nicht das Konzept des Multikulturalismus ist gescheitert, sondern dessen bisherige Umsetzung. Keine Frage, bei der Integration müssen wir noch viel besser werden." [Rot am Rande: "Keine Frage!"]  Sodann  fällt Verf. das allfällig affirmative  Argument ein: "Schließlich ist unser Kontinent historisch schon immer ein Ort der Ein- und Zuwanderung gewesen." [Rot am Rande: "Historisch genauer! Wer? Wann? Wo? Wie?"]

"Ja, Gesellschaften, die sich offen zeigen für unterschiedliche Kulturen ["also mit unterschiedlichen Werten?"], Religionen und Ethnien, sind anstrengend. Aber sie sind eben auch  (sic!) bunt und bereichernd." [Marginalie: "Wer bereichert wen? Wer bereichert sich?"] Sodann, wie dereinst im Schulaufsatz geboten, setzt der Schlußpassus den  Höhepunkt im Traktat: "Wenn wir ["Nochmal: Wer ist ´wir´?"] diese Debatte jetzt nicht offensiv (!?!) führen, dann überlassen wir Europa zunehmend dem Wahnwitz der ethnischen, kulturellen und religiösen Gleichförmigkeit..."

III.
Vor derlei Macht des Arguments hätte selbst der eingangs erwähnte ungnädige Pauker resigniert. - Es bedarf eines beträchtlichen  Maßes an politischer - und intellektueller - Einfalt, um sich auf die dargestellte  Weise mit der durch die unverminderte, von den "Eliten" offenkundig geförderte Immigration aufgeworfenen Problemlage in West- und Mitteleuropa auseinanderzusetzen. Zur Erläuterung und Vertiefung der Problematik empfehle ich u.a. den Artikel von Martin Otto in der heutigen FAZ (v. 06.04.2106; Rubrik "Geisteswissenschaften, S. N 1) unter der Überschrift "Näheres siehe unter ´islamisches Recht´". Was "uns Europäer" (gemeint sind die Deutschen mit Geschichtstrauma) im besten Fall erwartet, faßt auf derselben Seite ein Aufsatz über die Verhältnisse in den USA zusammen: "Wer eine multikulturelle Gesellschaft will, muss auch mit den Schattenseiten leben: mehr Polizei, mehr Überwachung, weniger Solidarität, mehr Segregration und mehr Privatisierung." Sollte die Verf.  mit diesem letzten Begiff den Rückzug in die Privatheit gemeint haben, so wäre dies vermutlich genau das, was der politische Klasse in Brüssel und Berlin  für die EU-Staaten  vorschwebt: Der mündige Bürger hat den Mund zu halten.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen